Begrüßung von Thomas
Hürlimann am 17. Juni 2012
„Erzählen: das Band
zwischen Himmel und Erde“
Der Dichter Thomas
Hürlimann
Von Prof. Erich Garhammer
Thomas Hürlimann 2. v. links, Erich Garhammer 4. v. rechts |
Inlandskorrespondent solle er lieber
werden, so riet ihm sein Philosophielehrer. Er wurde Inlandskorrespondent- allerdings
ganz anderer Art, nämlich in Sachen Literatur. Thomas Hürlimann, 1950 in Zug
in der Schweiz geboren, zählt zu den
großen Autoren der Gegenwart. Er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet: dem
Rauriser Literaturpreis (1982), dem Preis der Stiftung Bibel und Kultur (1992),
dem Weilheimer Literaturpreis (1994), dem Literaturpreis der
Konrad-Adenauer-Stiftung (1997), dem Joseph-Breitbach-Preis (2001), dem Jean-Paul-Preis
(2003), dem Herbert Haag Preis für Freiheit in der Kirche (2010) und gerade
jetzt mit dem Thomas-Mann-Preis. Herzlichen Glückwunsch dazu!
Viele Fäden könnte man aus dem
Erzählwerk von Hürlimann herausziehen. Ich möchte nur drei Motive andeuten.
1. Tod
und Sterben
Zum einen den Faden „Tod und Sterben“:
Seine Berufung zum Schriftsteller ist geprägt vom frühen Tod seines jüngeren
Bruders. „Ich möchte mit seinen Augen die Welt betrachten“, das ist sein
literarischer Antrieb. Freilich sperrt sich zunächst in ihm alles, über den Tod
seines Bruders zu sprechen und zu schreiben. So verfremdet er seine Erfahrungen
in die Erzählung „Die Tessinerin“. Die Hauptgestalt, in jungen Jahren Bedienung
im Tessin, heiratet in ein Schweizer Alpendorf und ehelicht den Lehrer von Eutel.
Sie wird dort nie heimisch, sie bleibt „Die Tessinerin“. Aus der Perspektive
des Dorfwirtshauses wird ihr Sterben beobachtet und kommentiert. In diese
Erzählung hat Thomas Hürlimann ein literarisches Epitaph für seinen Bruder
eingefügt.
In seinen Notizen „Sprung in den
Papierkorb“ beschreibt er diese Erfahrung so:
„Der mir liebste Mensch war mein Bruder.
Er hatte Knochenkrebs und kämpfte vier Jahre gegen den Tod. Sein Sterben
verwandelte mich. Ihm zeigte sich alles im Abend- und Abschiedslicht, in den
Tönen der Dämmerung, und fast ohne es zu merken, begann ich seine Sicht zu übernehmen.
Ich lernte, dass das Schöne, wie Rilke sagt, der Anfang des Schrecklichen ist
und das Schreckliche der Anfang des Schönen. Am Bett des Sterbenden schrieb ich
erneut ein Theaterstück, und mit wachsender Erregung nahm ich wahr, wie ich zum
ersten Mal etwas Eigenes erschuf...Aber es war sein Eigenes. Das Eigene meines
Bruders. Nicht ich, er war der Autor. Die Dämmertöne gehörten ihm. Er, nicht
ich, hatte das Stück erdacht. Es kam an. Im „Berliner Tagesspiegel“, der
wichtigsten Zeitung der Stadt, konnte ich lesen, dass ein neuer Name
aufgetaucht sei, ein Name den man sich merken müsse. Schön. Sehr schön. Dumm
war nur, dass es ein Toter war, erst noch mein Bruder, der dieses Bravourstück
hingelegt hatte.“ (Der Sprung in den
Papierkorb 11f.)
In der Geschichte „Herr des Raumes“ aus
dem Geschichtenband „Die Satellitenstadt“ hält Hürlimann eine hellsichtige
Beobachtung fest: für ihn besteht zwischen dem Tabuisieren des Todes und dem
Aufkommen der harten Drogen ein direkter Zusammenhang. „Just an dem Tag, da die
Pariser Stadtverwaltung die Trauerzüge aus verkehrstechnischen Gründen untersagt
hatte, wurde inmitten der City ein bis dato unbekanntes Phänomen gesichtet. Er
war es. Er hatte einen neuen Namen, die Droge, und ein neues Werkzeug, die
Spritze.“ (Satellitenstadt, 170) Er: der verbannte Tod wurde nun in ganz neuer
Weise öffentlich. Und Hürlimann wurde bewusst – er hatte seinem toten Großvater
noch die Zehen gestreichelt – dass seine Generation die letzte sei, die in
früher Kindheit mit dem Tod vertraut wurde. „Der Jeunesse von heute wird diese
Erfahrung verweigert. Nie hört sie ein Röcheln, nie riecht sie eine Leiche.
Trotzdem sagen wir ihnen: Drogen enden tödlich. Wie wahr! Aber das Wort hat
keinen Geruch für sie, es strahlt keine Warnung aus. So erklärt sich, warum es
dem Räumer gelingen konnte, für sein Thanatos-Ballett ausgerechnet die Blüte
des Landes zu engagieren. Lernen die Kids den Tod endlich kennen, hängen sie
bereits an seiner Nadel.“ (Ebd. 171)
Das Thema des Sterbens durchzieht sein
Schreiben - nicht todtraurig, aber todsicher. Der Tod ist uns allen sicher.
Auch seinem Roman „Vierzig Rosen“ ist von Anfang an das Thema von Tod und
Vergänglichkeit eingraviert: Marie bekommt vom Blumenboten 40 Rosen überreicht:
„Dann umarmte sie das Bouquet und konnte leider nicht verhindern, daß ihr ein
leichter, der Süße entfließender Fäkalgeruch in die Nase stieg …Sie hielt den
Strauß etwas zur Seite und beobachtete, wie sich der Bote rückwärts
davonmachte. Er trug eine schwarze Krawatte, und auf der Ladefläche des
dreirädrigen Karrens lag ein Trauerkranz mit violetten Schleifen. Seine nächste
Station war der Friedhof, wo um diese Zeit, wenn es zu herbsten begann, jeden
Vormittag ein Begräbnis stattfand.“ (20)
Teilnehmer des Seminars |
2. Die
katholische Sozialisation
Sodann ist das Schreiben von Thomas
Hürlimann geprägt von seiner katholischen, näherhin klösterlichen Erziehung im
Stift Einsiedeln. Viele seiner Beschreibungen des Klosteralltags etwa die
Einkleidungsszene des Zöglings in seinem Roman „Der große Kater“ gehörten in jedes
Lesebuch.
Hürlimann leistet in seinem Schreiben so
etwas wie den Versuch einer narrativen Rettung des katholischen Kosmos. Mit „Katholisch“
ist freilich keine Einschwörungsformel gemeint oder eine konfessionalistische
Apologetik, sondern eher das Plädoyer für die Vielfalt, die Weite, das
Abgründige. Ein Plädoyer für das „et - et“. „Wenn wir sagen ‚Wir Katholiken’,
sind wir schon nicht mehr katholisch“, so hat es Gabriel Marcel einmal
formuliert.
Agape |
3. Die Katze: das dissidente Tier
Ein drittes Motiv, das bei Thomas
Hürlimann zentral ist, ist die Katze. Er hat mir einmal erzählt, als er in
einer Schreibkrise war, sei ihm eine Katze zugelaufen. Dies steigerte anfangs
noch sein Problem: er wohnte nämlich in einem Haus, wo Tiere grundsätzlich
verboten waren. Der Hausherr im obersten Stockwerk hielt sich sogar einen
scharfen Hund, um alle anderen Tiere wegzubeißen. Die Katze verlangte jedoch ihren
regelmäßigen und geschützten Auslauf, der ihn nun weiterhin vom Schreiben abhielt.
Aber die streunende Katze und ihre personifizierte Freiheit erlösten ihn von
seinem Schreibzwang und schenkten ihm gerade dadurch den rettenden Einfall.
Die Katze mit ihrem funkelnden Augenpaar als Wiederverzauberung der Welt –
Hürlimann hat diese Erfahrung häufig beschrieben.
Die Katze ist auch auf dem Deckengemälde
in der Klosterkirche Maria Einsiedeln von den Gebrüder Asam dargestellt worden
– neben Judas, wie sie einen Teller ausleckt. Die Katze neben Judas, das
dissidente Tier, die Katze, die auf der Arche Noah nicht erwähnt wird, für
Hürlimann ist sie das Vitale, das Unzähmbare, das Gegenteil der klösterlich
angezielten ‚Vasenexistenz’. Übrigens: der Name „Katzentisch“ kommt von Ketzertisch
– Hürlimann ist in diesem Sinn ein Ketzer, der das Ausgeschlossene, das
Verdrängte an den Tisch holen will. So kann Marie im Roman „Vierzig Rosen“ von
sich sagen: … „ich bin eine Katz. Ich vertrage kein Halsband.“
Mit dem Namen Katz hat Hürlimann in
seinem letzten Roman vor allem die jüdische Traditionslinie seiner Familie an
den Tisch geholt. Und das ist selbst für ihn eine erstaunliche
Selbstentdeckung. Der Vater von Marie, der „Seidenkatz“, stellt fest: „Wir
Juden… stellen lauter unpraktische Regeln auf, Regeln, durch die wir die Dinge
fürchterlich komplizieren. Warum tun wird das? Ich habe lange gebraucht, um
eine Erklärung zu finden. Sie ist sehr simpel. Wir umgeben uns mit all diesen
Gesetzen, damit wir beim besten Willen keine Zeit haben, über die letzten Dinge
nachzudenken. Aber auch wir Juden haben ein Jenseits. Die Geschichten. Ja, die
Geschichten. In den Geschichten leben wir weiter.“ (227) Thomas Hürlimann
gründet also seine Erzählwurzeln in diesem Geschichtenkosmos des Judentums und
im Geist des Chassidismus; von dessen Gründergestalt Baal Schem Tov wird
berichtet: „Immer, wenn der Baal Schem Tov sah, daß das Band zwischen Himmel
und Erde zerschnitten war, und es unmöglich blieb, es durch Gebet wieder zu
verknüpfen, pflegte er es zu erneuern, in dem er eine Geschichte erzählte.“ In
diesem Satz steckt das Vertrauen der Chassidim in die ungebrochene Wirksamkeit
Gottes, die der Geschichten bedarf, um auch heute noch spürbar zu werden. In dieser
Spur geht Thomas Hürlimann. Er knüpft das Band zwischen Himmel und Erde in
seiner Literatur neu.
Lieber Thomas,
herzlich willkommen in Himmelspforten.
Wir freuen uns auf Deine Lesung.
Literatur:
Thomas Hürlimann, Die Tessinerin. Geschichten, Frankfurt a.M. 1984.
Ders., Die Satellitenstadt. Geschichten, Frankfurt a.M. 1994.
Ders., Der große Kater. Roman, Zürich 1998.
Ders., Fräulein Stark. Novelle, Zürich 2001.
Ders., Vierzig Rosen. Roman, Zürich 2006.
Ders., Das Einsiedler Welttheater 2007, Zürich 2007.
Ders., Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen
am Rand, Zürich 2008.
Verleihung des Literaturpreises
AntwortenLöschender Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
an Thomas Hürlimann
Weimar, 3. Juni 1997
DOKUMENTATION
Im Auftrag der
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V
http://www.kas.de/wf/doc/kas_7813-544-1-30.pdf?081009110900